Wie die Menschen erwachsen werden...

Er bewegte sich im Raum entbehrt des Sinnes. Weder erinnerte er sich an die Vergangenheit, noch dachte an die Zukunft. Heute verstand er plötzlich, daß alles zu Ende gekommen ist ohne begonnen zu sein. Er wußte genau nicht, was geschehen ist, er fühlte aber, daß es ihn totgeschlagen hat.

Er hat seine 17 Jahre ganz glücklich gelebt. Seine Eltern waren die anständigen Leute, die die Hälfte ihres Lebens der Erziehung des Sohnes gewidmet haben. Und jetzt setzten sie auf ihn so große Hoffnungen, daß es ihm unter dieser Last schwer zu atmen war. Er glaubte aber hoch und heilig daran, daß die Zeit kommt, wenn er die Eltern gebührend einschätzen wird, und überhaupt war er von den ehrsüchtigen Absichten erfüllt. Er wollte einmal eine Heldentat um der Menschheit willen vollbringen, obwohl er sich nicht genau vorstellte, was für eine.

In der Schule hatte er keine großen Probleme, obwohl er nicht gern lernte. Viel mehr gefiel es ihm Partys zu organisieren und auch morgens durch die Stadt bummeln. Einmal, als er etwa acht Jahre alt war, kehrte er mit seinen Eltern aus einer Sommerfahrt zurück. Ihr Zug kam bei Tagesanbruch an. Damals entdeckte er für sich zum ersten Mal das morgendliche Moskau. Es hatte einen besonderen Duft, der aufregte und tiefer atmen ließ. In dieser Zeit gab es noch keine Autos, keinen Brandgeruch, und die aufstehende Sonne widerspiegelte sich sanft und lustig in den Fenstern der Häuser. Er mochte diese Morgensonnenstrahlen und diesen Duft der Frische und seinen Park in jeder Jahreszeit. Manchmal wollte er den Park in vier Abschnitte verteilen und in jedem von denen eine ständige Jahreszeit herrschen lassen, um Möglichkeit zu haben, durch die Alleen spazierend aus dem Frühling gleich in den Herbst und aus dem Winter gleich in den Sommer geraten zu sein. Und noch versuchte er sich oft vorzustellen, wie diese Welt ohne Musik wäre, aber es gelang ihm nie. Und jedes Mal kam er zum Schluß, daß die Musik ewig ist, wie er selbst… Ja, er zweifelte daran nicht, daß er ewig ist, deshalb dachte er nie, wie die Welt ohne ihn wäre und was NACH ihm kommen wird.

Und heute verstand er plötzlich, daß er sterben wird und nie wieder den Sonnenaufgang und die Regentropfen am Fensterglas sehen wird. Er verstand, daß er einmal stirbt und die Musik ewig am Leben bleiben wird, ohne ihn, und die Welt sich überhaupt nicht ändern wird. Und noch verstand er, daß er jedenfalls sterben wird, egal ob er zu einem hervorragenden Wissenschaftler oder zu einem Lastträger am Bahnhof geworden sein wird, und keine Heldentat im Namen der Menschheit ihn vom Tod erlösen kann. Er wartete auf diesen Gedanken nicht, er kam selbst, plötzlich und unerwartet, als er zu Hause bei seiner Liebesfreundin saß und beobachtete, wie nett sie Butter auf ein Brotstückchen schmierte. Und auf einmal verlor diese charmante Bewegung des Ellenbogens für ihn den Sinn und das ganze Leben wurde sinnlos. Wozu? Wozu?! Wozu?!! Wozu?!!! Zu welchem Zweck werden die Leute geboren, wenn sie sowieso sterben sollen? Wozu singen die Vögel, wozu leuchten die Sterne, wozu lieben wir jemanden, wozu machen wir die Zukunftspläne, wenn der Tod auf uns in der Zukunft wartet und alles zu Ende gehen wird? Wozu ist das alles?… Er fand keine Antwort. In der Seele wurde es kalt und leer. Er stand auf und tritt schweigend hinaus, ohne die Frage der verwunderten Augen des Mädchens beantwortet zu haben.

Er bewegte sich im Raum entbehrt des Sinnes. Weder erinnerte er sich an die Vergangenheit, noch dachte an die Zukunft. Er wußte nicht, wohin er geht, er wußte nur, daß jeder Schritt ihn dem Tod nähert.

Aus Gewohnheit kam er nach Hause. Ohne die Schuhe auszuziehen und das Licht einzuschalten, ging er in sein Zimmer, er stolperte aber in der Dunkelheit über einen Buchstapel, den er gestern nicht weggelegt hat, und schlug lang auf dem Boden hin. Ohne aufzustehen, zündete er ein Streichholz an. In seinem ungleichmäßigen Licht sah er ein geöffnetes Buch. Da stand geschrieben: "Hören Sie mal! Wenn man doch die Sterne anzündet, folglich, ist es jemandem nötig…"1 Das Streichholz ging aus.

 

Am Morgen rief er seine Freundin an und entschuldigte sich. Dann sammelte er die Bücher und stellte sie an dem Regal auf. Er hat Kaffee getrunken und ging in den Park. Er hat noch viele Jahre, sehr viele Tage und noch mehr Stunden gelebt. Aber nie mehr träumte er davon, um den Park in vier Abschnitte zu teilen und sich an allen Jahreszeiten gleichzeitig zu weiden. Mit der Zeit lernte er aus jede einzelne genießen.

Beloussowa  Evgenija

02. 11. 1999

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1 Ein Zitat aus dem Gedicht von Wladimir Majakowskij „Hören Sie mal!“

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Foto: Dmitrij Schamin

Foto: Wladimir  Proskurjakow

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